Montag, 31. August 2015

Von Freundschaft und Tod

Ein Nachruf
Was mag in einem Menschen wohl vorgehen, dem gerade der Arzt sagt, er habe noch vier Wochen Zeit? Ich kann die Frage nicht beantworten, obwohl ich dabei war, als man das einem guten Freund sagte.

Ich spreche von Urs, der ziemlich genau vor zehn Jahren starb. Inzwischen ist viel Wasser durch die Limmat in den Zürichsee geflossen, alles ist verjährt, im juristischen Sinn, und ich hoffe auch in meinem Inneren. Ganz sicher bin ich mir nicht.



Quelle - Schweizerische Gesellschaft für Kulturgüterschutz SGKGS
http://www.kirche-zh.ch/

Ich lernte Urs 1984 kennen. Er war damals ein junger, aufstrebender Wirtschaftsfachanwalt, mit besten Kontakten zur Schweizer Bankenwelt, einer der Leute, gegen die ein deutscher Politiker später einmal die Kavallerie einsetzen wollte.
Unsere ersten Projekte wickelten wir 1986 in Russland ab, noch zur Zeit Gorbatschows. Später arbeiteten wir an Projekten in Libyen und Syrien, bis die libyschen Projekte für mich strafrechtliche Konsequenzen hatten. Ich habe damals zu den Vorwürfen gegen Urs geschwiegen, und er kam ungeschoren davon. Er hat ebenso zu meinen Gunsten ausgesagt, und ich kam vielleicht etwas glimpflicher davon. Seine Zeugenaussage liest sich über weite Strecken wie aus dem Handbuch für den angehenden Junganwalt – ich berufe mich auf meine anwaltliche Schweigepflicht. Dabei muss  ich allerdings sagen, dass sich die ganze Geschichte anders abgespielt hat, als die Staatsanwaltschaft damals glauben machen wollte. Zugunsten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft gebe ich aber zu, dass sie mit Überschriften in der
Boulevard-Presse wie – Auschwitz im Wüstensand – nicht allzu viel Spielraum hatten.

Unsere Freundschaft war eine Hass-Freundschaft. Urs war krank, alkoholkrank, und auch sonst ließ er nichts aus, was das Leben als angebliche Freuden bereit hält. Manchmal gewann der Hass zwischen uns die Oberhand, dann sahen wir uns Wochen, Monate nicht. Dann wieder kam die Freundschaft zum Vorschein und ich wohnte in Zürich, weil er merkwürdigerweise nicht trank, solange ich in Zürich war. Ich hasste ihn, wenn ich ihn wieder einmal in einer psychiatrischen Klinik zur Entgiftung abliefern musste. Holte ich ihn nach ein oder zwei Wochen wieder ab, hatte ich unendliches Mitleid mit ihm. Da stand er, zerfurcht, beinahe zerschlissen, abgemagert, oft gequält von einer Entzugsepilepsie, eine Plastiktüte mit seinen wenigen Habseligkeiten unter dem Arm. Gefängnisse und Psychiatrien haben eins gemeinsam – die Türen haben von ihnen keine Klinken.

Ich weiß, auch er hat mich gelegentlich gehasst. Wenigstens immer dann, wenn ich ihn gegen seinen Widerstand, bis hin zu Handgreiflichkeiten, aus einem Lokal herausholte, oder im Bordell freikaufte und ihn in die Psychiatrie brachte.

Urs bekam Schmerzen im Rücken. Als sei es gestern gewesen, erinnere ich mich, wie ich ihm aus seinem Fernsehsessel hoch helfen musste, wie er sagte – ich muss mich einmal gründlich vom Arzt untersuchen lassen. Ich gehe in die Klinik, dann habe ich alle Untersuchungen in zwei Tagen hinter mir.

Nach zwei Tagen Klinikaufenthalt hieß es, es werde wohl etwas länger dauern. Ich besuchte ihn jeden Tag und nach einer Woche sagte er, laut Aussage der Ärzte habe er noch ein Jahr zu leben. Aber, meinte er, so schlimm sei das nicht, in einem Jahr habe er seine persönlichen Sachen geregelt.

Urs war zeit seines Lebens ein sehr starker Raucher und mir fiel auf, dass auch in seinem Krankenzimmer der Aschenbecher überquoll. Es war ein beinahe komischer Anblick, wie er im Bademantel, den Tropf am Galgen hinter sich herziehend, die Nadel der Infusion im Arm, eine glimmende Zigarette in der Hand, durch das Krankenzimmer schlurfte. Die Ärzte hatten ihn aufgegeben.

Eine weitere Woche verging und sein Bruder, ebenfalls Arzt, besuchte ihn. Als ich nach dem Besuch des Bruders in die Klinik kam, sagte Urs: Die Ärzte haben mich belogen, ich habe höchstens noch vier Wochen Zeit. Er war nicht etwa erregt, nur seine Stimme klang etwas brüchig.

Urs bestellte einen Notar in die Klinik und diktierte sein Testament. Seine Töchter, zu denen er während der letzten Jahre ein eher distanziertes Verhältnis hatte, kamen zu Abschiedsbesuchen. Ich sah mit an, wie seine Beine auf doppelten Umfang anschwollen und er das Bett nicht mehr verlassen konnte. Sein ganzer Körper verfärbte sich über Gelb bis Dunkelbraun, als seine Leber ihre Funktion einstellte. So ziemlich der letzte Satz, den er zu mir sagte, war: So schlimm ist das alles nicht. Ich bin einhundertvier Jahre alt geworden, das ist doch ganz ordentlich. Und er fügte hinzu: Ich habe so intensiv gelebt, bei mir zählt jedes Jahr doppelt. War er tatsächlich so gelassen? Ich weiß es bis heute nicht.

Urs starb wenige Tage, nachdem er diesen Satz gesagt hatte, eine Woche vor seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag.

Das Manuskript mit dem Titel  Kasino Rossija liegt jetzt schon mehrere Jahre in meiner Archivschublade. Die Handlung spielt über weite Strecken in Moskau und Sibirien, aber auch in Zürich, in einer kleinen, verschwiegenen Anwaltskanzlei in einem Haus neben dem Grossmünster, der bekannten Kirche mit dem Doppelturm. Das Haus wurde 1254 erbaut und trägt den Namen „Trinkstube der Edelleute“.

Ich werde Kasino Rossija noch einmal überarbeiten und dann veröffentlichen. Es ist an der Zeit.

Unsere gemeinsamen Erlebnisse in Libyen finden Sie unter dem Titel  Tarhuna - Giftgas für Libyen auf den bekannten eBook-Plattformen.

Valencia, 2015