Im
Sommer 1956 fuhr ich mit meiner Schwester Heliane zu meinen Großeltern
von Krefeld nach Güstrow in der DDR. An die Eisenbahnfahrt erinnere ich mich nicht
mehr, nicht an die Kontrollen, an keine Grenze, auch nicht an russische
Soldaten oder Vopos. Vermutlich hatte uns eine Rotkreuzschwester unter
ihre Fittiche genommen, uns sicher durch alle Kontrollen an der
Zonengrenze geleitet.
Als wir in Güstrow ankamen, war ich wieder zu Hause. Und auch nicht.
Meine Großeltern
1953 waren wir aus der DDR geflohen. Drei Jahre sind eine lange Zeit im Leben eines Vierzehnjährigen und jetzt kam mir alles fremd und grau vor. Meine Großeltern wohnten noch immer am Spaldingsplatz 10. Meine Großmutter ging noch gebeugter, war noch kleiner geworden, mein Großvater war unsicher auf den Beinen, seinem eigenen und dem Holzbein, seinem August.
Tante
Irmgard war Rot geworden, vertrat lautstark sozialistische Ideen, sah
sich bei jeder ihr von der Partei vorgegebenen Feststellung
triumphierend um, wie es so ihre Art war. Sie war nicht nur
Parteimitglied, hatte auch eine offizielle Funktion, ich weiß nicht mehr
welche, und sie versuchte, meinen Großvater zu missionieren. Er
erwiderte selten etwas und wenn, dann lautstark, klopfte auch schon mal
drohend mit seinem Stock auf den Tisch. Er wollte von der roten Brut
nichts hören, rechnete seine Tochter wohl dazu, wollte nur seine Ruhe,
wollte nicht mehr Nazi genannt werden, der er mit Sicherheit nie gewesen
war.
Von meiner Schwester hörte ich nicht sehr viel in den folgenden Wochen. Unsere Cousine Christiane, Tante Irmgards Tochter, war im gleichen Alter. Die Beiden tauchten mit den Nachbarskindern im Garten ab und haben bestimmt nicht über Politik gestritten.
Meine Großmutter war sehr in sich gekehrt und manchmal kam es mir so vor, als sei sie tatsächlich nach Pommern zurückgegangen. Sie sprach wenig, auch selten genug mit mir, und wenn sie nicht in der Küche werkelte, saß sie am Fenster und blickte ins Nirgendwo.
Ich war mit meinem Großvater viel im Garten auf der Goldberger Chaussee. Er hatte Mühe mit seinem Holzbein dorthin zugelangen, aber er nahm es auf sich, wollte seine Ruhe haben. Er hatte immer Brot und fetten Speck oder Schmalz in einem Stoffbeutel dabei und wir blieben den ganzen Tag draußen – das heiße Augustwetter ließ es zu.
Auf dem Spaldingsplatz hatte ein großer Rummelplatz eröffnet. Mitten auf dem Platz stand ein Riesenrad und Buden mit Süßigkeiten. Da waren Jongleure und Akrobaten und an einer der Buden konnte man mit Luftgewehren schießen. Dann gab es noch eine kleine Achterbahn, bei der die Wagen während der Fahrt mit einem Verdeck abgedeckt werden konnten. Wie auf jedem Rummelplatz gab es auch eine Geisterbahn.
Manchmal
gab mein Großvater mir etwas Geld und ich ging auf den Jahrmarkt, fuhr
mit dem Riesenrad oder der Achterbahn. Und dort, neben der Achterbahn,
traf ich Rita. Dunkle Haare, Pferdeschwanz, blaue Augen. Sie trug ihr
blaues Pioniertuch, so wie ich damals, als wir zusammen bei den
Höhlenforschern waren, wie die Arbeitsgruppe 'Altertum' genannt wurde. Sie erkannte mich zuerst nicht, sagte dann, so als erinnere sie sich nur mit Mühe an mich: »Ach du bist es.«
Es entwickelte sich eine eher verkrampfte Unterhaltung – wo lebst du jetzt – was machst du – in welcher Klasse bist du. Bis sie dann ganz dringend nach Hause musste. Immerhin schaffte ich es, mich für den nächsten Tag mit ihr auf dem Jahrmarkt zu verabreden.
Sie kam tatsächlich.
»Ihr seid damals ganz plötzlich verschwunden«, stellte sie nüchtern fest und ich konnte nur schuldbewusst mit dem Kopf nicken.
»Ja«, sagte ich und verriet auch sofort meine Eltern.»Meine Eltern haben mich mitgenommen.«
»Wir
blieben hier. So schlecht ist es hier auch nicht. Und es wird immer
besser. Wir haben viel Spaß bei den Pionieren«, sagte Rita.
»Willst
du Achterbahn fahren?«, fragte ich. Sie sah die quietschende Bahn an,
die kreischenden Jungen und Mädchen, die ab und zu das Verdeck
hochklappten, um im Schutz der Dunkelheit zu knutschen.
»Ich weiß nicht. Eigentlich schon. Aber ich muss jetzt gehen. Ich muss zu einer Versammlung.«
»Morgen wieder?«
»Ich weiß nicht, vielleicht.«
Am nächsten Tag und auch am übernächsten kam sie nicht. Ich ging dann wieder mit meinem Großvater einen ganzen Tag zur Goldberger Chaussee, erzählte ihm von Rita. »Sie wird nicht kommen dürfen«, sagte mein Großvater. »Du bist jetzt so was wie ein Abtrünniger, einer der zum Klassenfeind übergelaufen ist.«
Sie kam dann doch und wir fuhren auch Achterbahn, klappten das Verdeck hoch und es kam zu etwas, was ich damals für den Gipfel der Intimität hielt, zu einer Art Kuss. Eher ein Wischen meiner Lippen über ihre Wange, als ein richtiger Kuss.
Ich wollte ihr dann unbedingt einen kleinen Teddy schießen, schoss aber immer daneben. Lächelnd nahm sie mir das Luftgewehr aus der Hand, zielte kurz und traf. Rot vor Scham gab ich ihr großherzig den Teddy, den sie selbst geschossen hatte.
»Wir schießen regelmäßig mit Luftgewehren in unserer Pioniergruppe«, sagte sie beinahe entschuldigend. »Ich habe schon einige Preise gewonnen.«
Wir
trafen uns noch drei- oder viermal an der Achterbahn, klappten auch das
Verdeck hoch und machten etwas, was man heute abwertend Blümchensex
nennt. Sie sagte dann, dass sie für die nächsten Wochen ins Pionierlager ginge, und dass sie nicht mehr kommen könne.
Ich habe nie wieder von Rita gehört. Vielleicht liest sie diese Zeilen.
Wenn ja, melde dich! Reden wir über die Höhlenforscher. Und über die
Achterbahn.
Drei
Wochen später fuhr ich mit meiner Schwester wieder nach Hause. Mein
Großvater gab dem Chef der Zugbegleiter ein paar Zigarren, damit er auf
der Rückfahrt auf meine Schwester und mich aufpasste.
Jetzt, wo ich an Sommer 56 denke, geht mir etwas durch den Kopf, worüber ich bisher noch nie nachgedacht habe. Im Jahr 53 waren wir in den Westen geflüchtet, haben rieber jemacht. Trotzdem habe ich 56 mit meiner Schwester, also gerade mal drei Jahre, nachdem wir getürmt waren, meine Großeltern in Güstrow besuchen dürfen. Alle, die ich fragen könnte, wer damals die Genehmigungen beschafft hat, wie er es gemacht hat, sind tot. Ich weiß, dass wir nur eine Aufenthaltsgenehmigung für die Stadt Güstrow hatten, weil mein Großvater ffuchsteufels wild geworden ist, als ich, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, auf dem Fahrrad, mit meiner Schwester auf dem Gepäckträger, zu einem früheren Schulfreund in ein Dorf nahe Güstrow gefahren war. So richtig eiskalt und unerträglich wurde der Kalte Krieg wohl doch erst später.